SingerSongwriter | Porträt

 

Ein Abend in Hameln, Frühlingsanfang, und es schneit in Strömen. Stiller kommt, wie so oft, erst spät nach Hause und lässt sich in seinen Lieblingssessel fallen. Er denkt ernsthaft über Emigration nach. Warum ist er nicht auf Haiti, Hawaii oder Kuba geboren? Da scheint schließlich die Sonne, und die Menschen sind heiter und klar. Warum ist er immer noch hier und nicht in London? Denn da tobt der Freigeist. Was hält ihn nach all den Jahren in dieser gottverdammten Provinz? Wobei er feststellt, dass die reine Spekulation darüber schon hilft. Was ist, wenn er auswandert, die ganze Vision erweist sich als Fototapete, und die Sonne und die Freigeister sengen und nerven? Kann er die geballte Schönheit überhaupt verkraften, oder liegt die wahre Erfüllung ganz woanders?

Soviel zum Wachzustand, sofern man nach fünf Bieren noch davon reden kann. Doch wie kommt es, dass Stiller seit jeher von Jugendherbergen und Schulkameradin Heidrun H. aus Bad Oeynhausen träumt, oder von der Stadt Iserlohn, die er noch nie gesehen hat?

  Von komplizierten und launischen Frauen, die man leicht übersieht und die mit ihrer Figur hadern? Warum ist der Parkplatz hinterm Rewe-Markt so viel greifbarer als all die Tropenträume? Im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein vielleicht bedeutsamer als den Atlantik zu überqueren? Denn trotz alledem ist Stiller doch Pragmatiker: Bevor er sich ein Floß baut, sollte er erst einmal schnitzen lernen.

Es klingelt an der Tür, ein Freund, der mit dem Wetter auch nicht klarkommt. Stiller verspricht im Scherz Fleischsalat, serviert dann aber doch etwas Wärmendes. Der Freund ist´s zufrieden, und Stiller wieder allein. Was er auch muss, wann bitte sonst sollte er über seine Freunde nachdenken? Freunde sind etwas Wunderbares, er kann ihnen offen sagen, wenn er auf Tour sturzbesoffen war. Und sie halten ihm die Hand, wenn er verliebt ist.

Denn mit dem Verliebtsein ist das so eine Sache. Mal ist es eine Krankheit, die ihn tagelang kotzen lässt, dann wieder die Offenbarung – nicht nur,

  wenn sich die Liebenden nackig machen, sondern auch dann, wenn sie sich zusammen auf dem Rummel verlustieren, er sie in die Geisterbahn einlädt und beide, für alle sichtbar, aus jedem Knopfloch strahlen. Die Frage ist nur: Was ist flüchtiger? Besinnungslose Leidenschaft oder das gemeinsame Verrotten auf Pärchenabenden? Was ist mit den Freunden, wenn Schluss ist, wechseln die in dem Fall auch das Lager?

Obsessives Alleinsein ist die einzige Antwort, wieder und wieder, der einsame Blick über die Prärie. Bis es abermals klingelt, Tür oder Telefon, was neue Fragen aufwirft: Sollte es Reinkarnation geben, wie lange war Stiller in seinem bisherigen Leben schon tot? Ist er wirklich der Mann für eine ganze Nacht, oder, pragmatischer gedacht, nur für gewisse Stunden? Was macht Heidrun H. eigentlich heute? Eins ist sonnenklar: Ohne diese Fragen keine Lieder. Und um die zu singen, wird Stiller wohl noch eine ganze Weile hier bleiben.

 

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