Runder Geburtstag | Rede (Auszug)

 

Lieber Papa, neulich hörte ich, wie immer beim Abwaschen, eine Sendung im Radio. Es ging um das Thema Extremsport, und ein Experte für Verhaltensforschung sagte: Angst und Neugier sitzen an derselben Stelle. Seit jeher machen Menschen die Erfahrung, dass die Erkundung von Neuem zwar oft mit Gefahren verbunden ist, aber auch Chancen eröffnen kann. Angst ist dabei nicht einfach ein Faktor, der die Neugier dämpft, sondern sie auch beflügeln kann – etwa als Suche nach dem ultimativen Kick. Häufig gewinnt die Neugier die Oberhand. Und da musste ich plötzlich an Dich denken.   Am Tag, als Dein Vater aus Krieg und Gefangenschaft kam – Du warst vier und hattest ihn noch nie gesehen – fragtest Du nach dem Kaffeetrinken: Mutti, wann geht der alte Mann wieder weg? Darauf sagte meine Großmutter: Das ist doch dein Vater, der bleibt jetzt hier! Und darauf Du: Ich finde das nicht so gut. Ich hab’ Angst vor dem. Was Dich nicht daran hinderte, ihn für den Rest des Tages tellergroß zu beäugen. Ich stelle mir vor, dass diesen Mann, der nichts dafür konnte und den ich nicht mehr kennen gelernt habe, eine Aura von Krankheit und Verfall umgab. Alt wurde er jedenfalls nicht.   Ich hatte es in dieser Hinsicht besser als Du, denn Du warst stets präsent, meistens schon ab 13 Uhr, und nach Deinem Mittagsschlaf auch ansprechbar und unternehmungslustig. Ich erinnere mich, dass wir einmal mit dem Auto über Land fuhren – ich beschäftigte mich gerade mit dem Thema Ruhm, weil ich Königin werden wollte – und ich vom Rücksitz aus fröhlich rief: Papa, der Hitler war doch richtig berühmt, ne? Und Deine Antwort lautete: Berühmt ist nicht das passende Wort, bekannt ja. Aber er war sehr, sehr böse und alle hatten Angst vor ihm.

 

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